Ein Wort, um dich zu retten: Roman (German Edition) by Musso Guillaume

Autor:Musso, Guillaume [Musso, Guillaume]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2020-06-01T16:00:00+00:00

8 Jeder ist ein Schatten

Eine Person […] ist ein Schatten,

in den wir niemals vordringen können,

ein Schatten, von dem wir uns abwechselnd

mit der gleichen Berechtigung vorstellen

können, dass in ihm Hass glüht oder Liebe.

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [14]

1

Nach meinem ereignisreichen Ausflug zum Cottage von Colleen Dunbar – der mit meinem »Sieg« über Little Max geendet hatte – war ich in die Stadt zurückgekehrt und hatte mich an einem Tisch im Fleurs du Malt niedergelassen. Ich hatte die belebte Terrasse gemieden und mich ins Innere verkrochen, von wo aus ich das Meer überblicken konnte. Bei einer heißen Schokolade las ich wieder und wieder die Briefe, die ich in Mathildes Zimmer entwendet hatte. Sie stammten alle von ein und demselben Verfasser, und mein Herz machte einen Satz, als ich die feine, schräge Schrift von Nathan Fawles erkannte. Es war kein Zweifel möglich, denn ich hatte im Internet verschiedene Kopien von den Manuskripten seiner Romane gesehen, die er der Städtischen Bibliothek von New York vermacht hatte.

Es waren etwa zwanzig Liebesbriefe ohne Umschlag, die entweder in Paris oder New York geschrieben worden waren. Nur einige waren datiert, und zwar im Zeitraum von April bis Dezember 1998. Sie waren alle mit »Nathan« unterzeichnet und an eine mysteriöse Frau gerichtet, deren Name nicht genannt wurde. Die meisten begannen mit »Meine Liebste«, doch in einem erwähnte Fawles den Buchstaben »S.« als Initial ihres Vornamens.

Mehrmals unterbrach ich meine Lektüre. Hatte ich wirklich das Recht, ungestraft vom Inhalt dieser Briefe Kenntnis zu nehmen und somit unerlaubt in Fawles’ Privatleben einzudringen? Alles in mir rief Nein. Doch dieses moralische Dilemma hielt weder meiner Neugier stand noch dem Gefühl, einzigartige und faszinierende Dokumente zu lesen.

Die Korrespondenz war zugleich literarisch und emotional und zeichnete das Porträt eines unglaublich verliebten Mannes sowie einer einfühlsamen, temperamentvollen und sehr lebenslustigen Frau. Einer Frau, von der Fawles offensichtlich zu dieser Zeit getrennt lebte, ohne dass ich meiner Lektüre hätte entnehmen können, was die beiden Liebenden daran hinderte, sich öfter zu sehen.

Als Gesamtheit bildeten die Briefe eine Art hybrides Kunstwerk, eine Mischung aus klassischem Briefroman, Poesie und Erzählung, bebildert mit wundervollen kleinen, in Ockertönen gehaltenen Aquarellen. Es war keine Konversation im eigentlichen Sinn. Nicht die Art von Briefen, in denen man sich die Erlebnisse des Tages erzählt oder was man gegessen hatte. Es handelte sich gleichsam um eine Hymne an das Leben und die Notwendigkeit zu lieben – allem Schmerz der Abwesenheit, dem Wahnsinn der Welt und dem Krieg zum Trotz. Das Thema Krieg war allgegenwärtig: Kampf, Uneinigkeit, Unterdrückung, aber es war nicht eindeutig, ob Fawles sich auf einen aktuellen bewaffneten Konflikt bezog oder ob es sich um eine Metapher handelte.

Was den Stil betraf, so glänzten die Texte vor Geistesblitzen, von gewagten stilistischen Pirouetten und biblischen Anspielungen. Sie enthüllten eine neue Facette von Fawles’ Talent. Die Musikalität erinnerte mich an Aragon, an bestimmte Gedichte von Elsa Triolet oder an Apollinaires Si je mourais là-bas. Die Intensität mancher Passagen ließ mich an die Portugiesischen Briefe von Marianna Alcoforado denken. Angesichts der formalen Perfektion fragte ich mich, ob es sich nicht letztlich um eine rein literarische Übung handelte.

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